Frage: Es gibt hier in der Serra da Capivara auffallend viele Fundorte. Was machte diese Gegend zu einem Hotspot der ersten Besiedelung Amerikas?
Niède Guidon: Wichtig ist hier natürlich die Siedlungskontinuität. Hier haben Menschen über einen sehr langen Zeitraum gelebt. Noch bis vor 9000 Jahren hatten wir hier ein eher feuchtes, tropisches Klima wie am Amazonas. In den Wäldern gab es Nahrung im Überfluss und das hat dazu geführt, dass hier über lange Zeiträume Menschen leben konnten. Wir haben Felszeichnungen, die 28.000 Jahre alt sind. Das ist genau die Zeit, zu der auch auf anderen Kontinenten gemalt wurde. Auch in Europa, Afrika und Australien hat man zu dieser Zeit mit Höhlenmalerei begonnen.
Frage: Was sagen uns die Felsbilder über das Leben der ersten Amerikaner?
Niède Guidon: Die Leistung dieser Menschen ist unglaublich. Die Bilder zeigen einen unheimlichen Reichtum an verschieden Alltagsaspekten. Zwischenmenschliche Beziehungen, Jagdszenen, Rituale und Sexualität. Das Problem ist jedoch: Wenn wir zum Beispiel eine religiöse Szene sehen, dann können wir sie nicht ohne weiteres im Detail verstehen. Wir müssten eigentlich die Religion kennen, um sie zu begreifen. Das ist einfach so: Man kann ja auch keinen Führerschein machen, wenn man die Bedeutung der Verkehrszeichen nicht kennt. Manche kann man sich vielleicht erklären, andere nicht. Und genau so ist es auch mit den Felszeichnungen: Wir können diese Bilder nicht wirklich verstehen, weil wir keinen Zugang zu der Religion oder dem Alltag dieser Menschen haben.
Frage: Haben sie unter den vielen tausend Bildern ein Lieblingsmotiv?
Niède Guidon: Nein. Manchmal finde ich eines ganz toll und einzigartig. Aber dann sehe ich Tage später ein anderes und dann gefällt mir das für eine Weile am besten. Und so geht es immer weiter. Es ist ein bisschen so wie in der Liebe. Man verliebt sich in seinem Leben ja auch immer wieder neu.
Frage: Viele Kritiker bezweifeln ja, dass die ersten Amerikaner über das offene Meer gekommen sind. Wie haben die Menschen das damals geschafft?
Niède Guidon: Vielleicht war es gar nicht ihre Intention. Sie könnten zum Fischen hinausgefahren sein, und dann hat eine Strömung sie aufgenommen und bis nach Südamerika getragen. Wir haben heute das Beispiel der Flüchtlinge aus Afrika. Nicht alle Boote kommen in Europa an oder kentern. Wir hatten schon gelegentlich den Fall, dass hier an der Küste im Nordosten Brasiliens Flüchtlingsboote angelandet sind. Es gab sogar mal einen Schwimmer, der bis hier an die Küste geschwemmt wurde und überlebt hat. Schon diese aktuellen Beispiele zeigen, dass es nicht nur möglich, sondern wahrscheinlich ist.
Frage: Welche Indizien gibt es sonst noch dafür, dass die ersten Amerikaner aus Afrika stammten?
Niède Guidon: Die technologischen Möglichkeiten, die wir heute haben – zum Beispiel die DNA-Analyse – zeigen ganz klar, dass es in Brasilien und anderswo schon früh afrikanische Einflüsse gibt. Wir haben auch australische, asiatische und orientalische Einflüsse. In diesem Sinne ist die Clovis First – Theorie schon lange völlig überholt. Ich denke, der Mensch ist mehrfach nach Amerika gekommen und eben schon viel früher als wir dachten. Für einen Ursprung in Afrika spricht auch, dass wir Koprolithen gefunden haben, also Ausscheidungen von Menschen. In ihnen wurden Parasiten nachgewiesen, die eindeutig aus Afrika stammen. Früher hatte man angenommen, dass diese Koprolithen von den afrikanischen Sklaven stammten, die hierher verschleppt worden waren. Aber dann konnten die Überreste auf achteinhalb Tausend Jahre datiert werden, also viel älter als die ersten afrikanischen Sklaven. Bis heute gibt es in Brasilien vereinzelt indigene Gruppen, deren Mitglieder eher afrikanische Züge tragen als asiatische. Abweichend von der überwiegenden Mehrheit der indigenen Bevölkerung in Brasilien, der man das asiatische Erbe bis in die Gegenwart ansieht, zeigen sie deutlich afrikanische Merkmale. Hier wäre es wichtig, neue Technologien breiter einzusetzen. Es gibt immer noch indigene Gruppen hier, deren DNA noch nicht untersucht wurde. Hier ist noch viel zu tun.
Frage: Für Ihre Theorie, die von einer sehr frühen Besiedlung aus Afrika ausgeht, werden in jüngster Zeit immer mehr archäologische Beweise gefunden. Warum halten viele Wissenschaftler, vor allem aus Nordamerika, trotzdem an Clovis-First fest?
Niède Guidon: Es geht um die Technik, um die Art und Weise, wie man gräbt. Während die Amerikaner sich nicht für die älteren Schichten interessieren und deshalb lange Zeit nicht so tief gegraben haben, geht zum Beispiel das französische Team von Prof. Boëda immer wirklich bis auf den anstehenden Felsen runter. Die gesamte Stratigrafie wird erfasst. 15 Jahre macht er das jetzt und hat dadurch eine genaue und klare Vorstellung von dem erarbeitet, was damals wirklich passiert ist.
Frage: Könnten auch politische oder nationale Intentionen eine Rolle bei der Favorisierung von Clovis First spielen?
Niède Guidon: Ich glaube das eher nicht. Es kommt wirklich eher auf die Art an, wie man gräbt. Heute gibt es Ergebnisse am Golf von Mexiko, in den Vereinigten Staaten, in Uruguay , Chile und an anderen Orten, die deutlich unsere frühere Datierung stützen. Ich denke nicht, dass es politische oder nationale Gründe für das Festhalten an Clovis gibt, sondern eher eine fachliche. Man findet ein Stück weit immer das, was man sucht.
Frage: Empfinden Sie so etwas wie Genugtuung, nachdem ihre Theorie immer mehr Bestätigung auch aus dem Ausland erhält?
Niède Guidon: Nein, ich bin da ganz emotionslos. Ich wusste ja immer, dass meine Annahmen auf stabilen Fakten basierten. Mir lagen ja die ganzen Daten vor. Wir hatten die Ergebnisse von Biologen, von Geologen, von Klimaforschern und anderen Wissenschaftlern. Die neue Theorie zur Besiedlung Amerikas war immer das Ergebnis einer Zusammenarbeit von einer ganzen Gruppe von Wissenschaftlern. Und weil mir all diese Ergebnisse vorlagen, hatte ich nie Zweifel.
Das Interview mit Niède Guidon führte Peter Prestel.